Kritische Nachbetrachtung der Demo zur Erinnerung an rechte Ausschreitungen in Heidenau oder: Vom schwarzen Blöckchen im „Drecksnest“
Am 21. August 2016 beteiligten sich viele Mitglieder der FAU Dresden zusammen mit Mitgliedern anderer syndikalistischer Organisationen in Sachsen an der Demonstration, die an die Pogrome in Heidenau vor einem Jahr erinnern sollte. Auf der Demonstration führte eine Reihe von Vorkommnissen zu großem Unmut in unseren Bezugsgruppen. Dies machte ein Einzelmitglied bereits vor Ort in aller Kürze deutlich. Wir wollen unsere Kritik hier ausführlicher, abgestimmter und fundierter an einigen Mitdemonstrant_innen aber auch an der taktischen Ausrichtung solcher Demonstrationen insgesamt üben. Eingangs möchten wir noch einmal betonen, dass es auch viel Positives an der Demonstration zu bemerken gab. Auch möchten wir uns uns hier noch einmal für die Arbeit des Vorbereitungsteams, bei den anderen Gruppen mit ihren sehr guten Redebeiträgen und bei der sehr sachlichen und eingängigen Moderation bedanken.
Kurze Schilderung der negativen Ereignisse
Am 21. August 2016 wurde von lokalen Akteur_innen eine Demonstration organisiert um an die mehrtägigen, rassistischen Ausschreitungen in Heidenau vor einem Jahr zu erinnern. Von den Veranstalter_innen wurden die Ziele formuliert mit dem Schweigen zu brechen und Wut auf die Straße zu tragen. Im Vorfeld wurde die Aufmachung von Plakaten und Stickern, die zur Demo mobilisierten, verschiedentlich als unglücklich gewertet, da diese keinen linken Kontext erkennen ließen.
Die Demonstration startete nach dem Einmarsch von ca. 200 Antifaschist_innen, die mit dem Zug angereist waren. Geschlossen und im schwarzen Block betraten sie den Bahnhofsvorplatz mit „Scheiß Drecksnest!“-Sprechchören und einer äußerst martialischen Außenwirkung. Einige Demoteilnehmende, insbesondere aus Heidenau, verließen daraufhin den Startkundgebungsplatz. Im Vergleich zu früheren Demonstrationen in Heidenau waren die Teilnehmenden im wesentlichen auch fast nur als weiß und jung wahrnehmbar.
Der Lautsprecherwagen startete zunächst mit ziemlich agressiver und textlich gewaltorientierten Songs. Später wurde die Musikauswahl abwechlungsreicher und von einer sehr professionellen, sachlichen Moderation begleitet.
Auf der Demonstration selbst kam es immer wieder zu Beleidigungen, Drohungen, Abfotografieren, klassistischer und stadtzentristischer Diskriminierung von Seiten einer Reihe von Demoteilnehmenden, nicht nur gegen offensichtliche Nazis sondern auch gegen unbeteiligte Passant_innen und Anwohner_innen. Auch viele der Sprechchöre waren politisch unreflektiert, teilweise diskriminierend und konterkarrierten die besonnene Moderation und die sachlichen Redebeiträge.
Am Ende des Tages blieb für uns daher die Frage, mit was für Leuten wir da z.T. eigentlich demonstriert haben und ob wir unseren Organisationsversuchen im Kreis im Besonderen und dem Projekt einer emanzipatorischen Linken im Allgemeinen vor Ort nicht nachhaltig mit dieser Demonstration geschadet haben.
Zielstellung der Demonstration?
Nur zwei Ziele waren im Vorfeld formuliert: Das Schweigen zu brechen und unsere Wut auf die Straße zu tragen. So gesehen kann die Demonstration als Erfolg verbucht werden. Allein viele der anwesenden FAU-Mitglieder hatten wohl etwas anderes darunter verstanden und sich andere Effekte erhofft. Eine Demonstration, die von ihrem Auftreten her so ziemlich jede_n verschreckt, der_die sich nicht schon in ihr befindet, oder sich als militanter Neo-Nazi auf der Suche nach Stress in ihrer Nähe aufhält, bleibt doch im Wesentlichen Selbstbespaßung mit ein wenig Hoffnung auf Beförderung medialer Berichterstattung. Wir möchten insgesamt dafür plädieren den taktischen Zielen politischer Aktionen und der beabsichtigen Außenwirkung mehr Raum sowohl in Vorbereitungstreffen zu Aktionen als auch in Aufrufen zu widmen, um solche Aspekte und Erwartungen in Zukunft klarer vor Augen zu haben.
Black Block – hier: Habitus statt Taktik
Der schwarze Block, also das einheitliche Kleiden von Demonstrationsteilnehmenden in schwer zu identifizierende, schwarze Kleidung, wurde ursprünglich als eine Aktionsform zur besseren Umsetzbarkeit von Massenmilitanz entwickelt. Von antifaschistischer Massenmilitanz war an diesem Sonntag in Heidenau unserer Ansicht nach im Vorfeld auf keinen Fall auszugehen. Und doch kam ein Großteil der Demonstrierenden ganz in schwarz und wirkte damit in der sonntagnachmittäglichen Kleinstadt wie von einem anderen Stern… Auch daran haben wir unsere Kritik.
Zum einen ist das schwarze Blöckchen, zumindest seinem ursprünglichen Ansinnen nach, in dieser Situation völlig nutzlos. Eine Gruppe von 200 Personen lässt sich mit der Ausrüstung der Polizei jederzeit von Anfang bis Ende im Blick behalten. Notfalls würden sie wohl auch die gesamte Demo filzen um an die Person zu kommen, die sie suchen. Im Gegenteil, ist das Outfit sogar hinderlich, auch für direkte Aktionen ohne Masse. Wollte mensch sich aus dem Staub machen, hätten wir 15 Uhr in Heidenau genau so gut eine blinkende Leuchte auf dem Kopf tragen können, wir wären ähnlich unauffällig. Natürlich bleibt der Aspekt der Unkenntlichmachung gegenüber Nazi-Fotograf_innen. Diesen können wir sehr gut verstehen, insbesondere bei den Locals, die nicht nur mit der Bedrohung ihrer eigenen Person sondern auch der ihrer Familien rechnen müssen. Dafür braucht es aber bei besten Willen kein Schwarz. Perrücken, Wendeklamotten, dezente Vermummung (auch in Farbe erhältlich) oder Sonnenbrillen erfüllen hier genauso ihren Zweck, ganz ohne den Black-Block-Habitus.
Welche Wirkung hat Black Block an dieser Stelle also nun de facto? Böse aussehen! Wer sich einem agressiv-schreienden Mob aus 200 schwarz gekleideten Leuten nähert, wird dies entweder tun, weil er_sie sich schon enorm zugehörig fühlt oder weil er_sie genug Erfahrung mit dem politischen Gegner hat, um dieses Trara nicht ernst zu nehmen und die Gefahr realistisch abschätzen zu können. Der Rest bleibt in aller Regel auf Abstand. Noch krasser ist das, wenn Leute z.B. aufgrund von Sprache nicht mal Logos und Sprechchöre interpretieren können. Jede_r geflüchtete Kolleg_in wäre ziemlich tollkühn sich einfach mal auf Verdacht dieser Meute zu nähern und auch sonst wird sich wohl niemand auf Verdacht in diesen homogenen Mob stellen, der_die etwas gegen Nazis hat und Gleichgesinnte kennen lernen möchte. Es wird also recht viel Aufwand betrieben, nur um bei der Aktion garantiert unter sich zu bleiben.
Schließlich komen wir nicht umhin zu bemerken, dass diese sinnentleerte Anwendung militanten Gebarens (nicht mal militanter Aktionen!) in ekelhafter Weise an männliches Dominanzgehabe und archaische Einschüchterungstaktiken anschließt. Also Dinge, die wir eigentlich bekämpfen wollen und bei denen einige von uns wohl „Gemacker!“ oder „Uniformismus!“ schreien würden.
Wer nun einwendet, dies sei eine Aktion zur Einschüchterung gewalttätiger, rassistischer Akteur_innen, dem müssen wir entgegen halten, dass diese Aktion, auch wenn wir 500 Leute gewesen wären, wohl niemand unter den Rassist_innen ernstlich eingeschüchtert haben dürfte. Jede_r Rassist_in mit ein wenig Verstand wird sich sehr wohl bewusst sein, dass die gleiche Anzahl an militanten, rechtsoffenen Menschen in diesem Moment ebenfalls in Heidenau zu finden war, eher mehr. Ebenso wird klar sein, dass hier einmalig einige Zugereiste aus Leipzig, Chemnitz und Dresden durch die Stadt laufen, die in wenigen Stunden a) ganz weit weg sind und b) keinen Fuß in die Stadt setzen werden, auch wenn sie in der Nähe sind. Rassist_innen schüchtert mensch nicht durch einmalige Demos ein, ob in Freital, Plauen oder Heidenau. Mensch schüchtert sie ein, in dem mensch regelmäßig in den Käffern unterwegs ist, dort eigene Politik und Strukturen etabliert und ihnen im Alltag auf der Straße die Meinung geigt. Eben das versuchen verschiedene Strukturen in der Region (u.a. FAU, AKuBiZ).
Heidenau – ein „Drecksnest“ wie viele andere in Sachsen
Zu Beginn der Demonstration stiegen nun also die angereisten Antifaschist_innen aus dem Zug und mit lauten „Scheiß Drecksnest!“-Rufen zogen sie martialisch auf den Bahnhof. Das Schauspiel erinnerte ein wenig an anreisende Hooligans die sich verbal warm machen um das Kaff des gegnerischen Vereins kurz und klein zu schlagen. Die „Drecksnest“-Parole wurde zu einer der tragendsten der ganzen Demonstration.
Die Auseinandersetzung um diese und ähnliche Parolen gibt es schon seit Tröglitz, Freital usw. Komischerweise war sie in Dresden seltenst zu hören. Ungefähr ebenso lange mahnen Leute an, solcherlei hohle Worthülsen auch stecken zu lassen, spannenderweise erstaunlich oft Menschen, die versuchen nachhaltig antifaschistische und anarchistische Strukturen auf dem Land aufzubauen. Um nicht falsch verstanden zu werden: Wir können sowohl den Ärger als auch den Wortlaut prinzipiell verstehen. Wir fänden es allerdings begrüßenswert, wenn Leute bei politischen Aktionen auf der Straße nicht gleichsam vulgär und lakonisch werden wie beispielsweise in ihrem privaten Twitter-Account.
Eine Ansage wie „Scheiß Drecksnest!“ sorgt wahrscheinlich nicht dafür, dass sich Menschen vor Ort mit Diskriminierung und Kapitalismuskritik auseinandersetzen. Hier könnte entgegen gehalten werden, dass mensch sich als Heidenauer_in von dem Spruch wohl nicht angegriffen fühlen wird, wenn mensch ebenso sehr die Rassist_innen im eigenen Ort hasst. Nur greift das leider schlichtweg zu kurz. Das funktioniert nur, wenn mensch sich schon mit diesem schreienden Mob identifiziert und sich quasi auf jeden Fall eher zu den Schreienden als den Angesprochenen zählt. Wie schon ausgeführt, haben wir als Demonstration aber nun ziemlichen Aufwand betrieben, dass sich wirklich niemand mit uns identifizieren konnte. Dazu sollte mensch auch die Auswirkungen des Extremismusdogmas nicht unterschätzen. Nur weil mensch auf dem Kaff lebt und die Schnauze von den örtlichen Rassist_innen voll hat, vielleicht sogar selbst zu militanten Aktionen gegen sie bereit wäre, sind militante Antifaschist_innen oft alles andere als naheliegende Bündnispartner_innen. Schließlich wurde einem oft jahrelang eingebläut, dass diese genauso stumpf, gewaltverherrlichend und menschenverachtend sein wie die Gegenseite. Unsere Demonstration tat jetzt nicht unbedingt viel dafür, dass mensch sich genötigt sehen mussten mit diesem Bild zu brechen.
Gleichzeitig erscheint die Parole auch völlig sinnlos. Mensch sagt im Grunde nicht wirklich etwas aus, bzw. ist die Parole im schlechtesten Fall sogar noch so zu lesen, als wäre das eigene Nest scheinbar kein Problem. Mit Ausnahme von ganz wenigen Städten ist das jedoch schlicht eine Farce. Wir bedenken die Ortschaften in der Nähe: Pirna, Bautzen, Bad Schandau, Sebnitz, Hohnstein, Freital, Dippoldiswalde, Radeberg, Niederau und vor allem und immer wieder: Dresden. Das Drecksnest aus dem ein Großteil der Teilnehmenden kamen. Der Ruf „Scheiß Drecksnest!“ muss hier entweder als redundant (doppelt/überflüssig zu erwähnen) oder als sau arrogant daherkommen, sind wir doch auch in vielen anderen Städten, wie die progressiven Heidenauer_innnen in ihrer Stadt, ohnmächtig gegenüber einer rechten Übermacht, vor allem eben auch in Dresden. Auf eine weitere Untiefe dieses „helles“ gegen „dunkles“ Deutschland-Bildes wies die „Pirnaer Autonome Linke“ in einem guten Redebeitrag auf der Demo hin.1 So schickt die SPD-Wählerin aus Dresden-Löbtau mit ihrer Stimme mehr Menschen in den sicheren Tod als es sich ein Heidenauer NPD’ler erträumen kann und geht damit nur einer anderen Version menschenverachtender und leistungsorientierter Volksgemeinschaft auf den Leim.
Gleichzeitig suggeriert die Parole, die mensch wohl als Vorwurf verstehen kann, dass eine Verantwortung am Zustand von Seiten der Rufenden nicht besteht. Auch das ist höchstens noch individuell richtig. Der Erfolg, den sich Rechtsradikale heute in Kleinstädten wie Freital, Pirna und Heidenau auf die Fahnen schreiben können, nämlich Militanz im Sinne ihrer Ideologie über einen organisierten Kreis von Leuten hinaus getragen zu haben und zu dem auf noch eine viel breitere Akzeptanz dieser menschenverachtenden Gewalttaten bauen zu können, ist Ergebnis jahrelanger Arbeit. Auf verschiedenen Ebenen, z.T. mit Zuzügen, Schulungen, Aktionsprogrammen und mehrjährigen Planungen haben rechtsradikale Strukturen wie NPD, JN und Freie Kräfte eine annähernd flächendeckende Organisation in allen Teilen der sächsischen Peripherie erreicht. Wichtig dabei auch die Rolle rechter Fußballmilieus zur Gewinnung von Jugendlichen und Vermittlung der eigenen Werte auch in politik-skeptischen Kreisen. Pogrome und Angriffe in Heidenau und Freital, aber auch der durchschlagende Erfolg der AfD sind die Ernte jahrzehntelanger, planmäßiger, zeit- und geldintensiver Aufbauarbeit von rechts.
Dem gegenüber stehen enorme Versäumnisse der radikalen Linken in den letzten Jahrzehnten. Sicherlich mag es eine Menge Widrigkeiten geben, die dazu führen, dass es einfacher ist Menschen für rechte als für anarchistische und linksradikale Politik zu begeistern. Diese Faktoren zu kennen ist gut und sie waren an verschiedensten Orten Thema. Das macht die Arbeit an flächendeckenden Strukturen schwerer aber deshalb nicht weniger nötig. Die auffallendsten Hindernisse für eine solche flächendeckende Aufbauarbeit stellten in den letzten Jahrzehnten die allgemeine Organisationsfeindlichkeit, die Aufgabe nicht-urbaner Gegenden und die Aufgabe eines revolutionären Anspruchs dar.
Soweit wir wissen hatte kaum eine linksradikale Organisation in Deutschland, von denen es wie gesagt ohnehin sehr wenig gab, den Anspruch planmäßig und längerfristig Gruppen außerhalb von Großstädten aufzubauen und diese zu unterstützen. Auch wurden Demonstrationen o.ä. auf dem Land so gut wie immer als reagierende Maßnahme organisiert. Organisationsangebote für vereinzelte Menschen mit ähnlicher Meinung wurden nicht geschaffen und die Landbevölkerung, ja ganze Gegenden insgesamt als rückständig, reaktionär und gefährlich eingeschätzt, gebrandmarkt und aufgegeben. Und auch hier: sicher hat das gute Gründe, gerade die Kämpfe der 90er Jahre wurden oft bewaffnet ausgetragen, mit Schwerverletzten oder gar Toten.
Trotzdem sehen wir immer wieder: es gibt sie, die emanzipatorisch Denkenden und Handelnden auf dem Land. Sie sind meist vereinzelt und hängen es nicht an die große Glocke aber es gibt sie und sie sind nicht kleinzukriegen.
Eine radikale Linke, die sich scheut ihre Wohlfühlkieze zu verlassen, die immer wieder dazu neigt diejenigen, die nicht ihrer Subkultur oder ihrer Ausdrucksweise entsprechen, automatisch als Gegner zu identifizieren und polemisierend anzugreifen, hat ihren Anspruch auf Gesellschaftlichkeit ganz offenbar verloren und sich in ihrer Position als rotzige Minderheit eben so gut eingerichtet wie in ihrem hippen Kiez, der ihr unterm Arsch wegsaniert wird. „Scheiß Drecksnest!“ müsste doch gerade auch als Vorwurf an uns selbst gelten. Warum stehen die humanistischen Menschen, die es auch in Heidenau gibt, seit Jahren allein da? Warum haben wir nie Möglichkeiten geschaffen sich zu organiseren? Warum haben wir nie Möglichkeiten geschaffen, sich zu organisieren oder andere Perspektiven zur Veränderung zu entwickeln als die der Parteipolitik? Wir als Teil einer Bewegung, die den Faschismus bekämpfen und Leuten Lust auf eine bessere Welt machen wollen, müssen mindestens so hart gegen uns sein wie gegen die Heidenauer_innen, die auf die Pogrome allenfalls defensiv, zu großen Teilen garnicht reagiert haben. „Drecksnest“, das kann mensch durch die Stadt rufen, wenn mensch sich jahrelang nach besten Wissen und Gewissen einer offenen, inhaltlichen Diskussion gestellt hat und sich in der Stadt trotzdem nichts bewegt. Es könnten zum Beispiel die Genoss_innen aus Limbach-Oberfrohna rufen. Von den vielen aus der Demonstration, die fehlen, wenn libertäre Aktionen auf dem letzten Kaff oder in Stadtteilen wie Dresden-Löbtau und Dresden-Gorbitz versucht werden, kommt es leider einfach nur selbstgerecht rüber.
Kleiner Exkurs: Klassismus und die radikale Linke
Klassismus ist ein umstrittener Begriff. Er versucht zweierlei zusammenzufassen. Einerseits die objektive ökonomische Ausbeutung derer, die nichts zu verkaufen haben als ihre Arbeitskraft, anderseits die Diskriminierung, die mensch erfährt, wenn er_sie von anderen zu einer Klasse oder einer bestimmten Klassenfraktion zugerechnet wird, ebenso wie die Hürden, die sich z.B. für gesellschaftliche Teilhabe aus dieser Klassenzugehörigkeit oder Sozialisierung in einer bestimmten Klassenfraktion ergeben.
Dass die radikale Linke, nicht nur in Dresden, ein enormes Problem mit Klassismus hat, lässt sich leicht feststellen. Ebenso wie bei Sexismus und Rassismus stellt hier die mangelnde Partizipation von Betroffenen in der Bewegung ein erstes, meistens verlässliches Indiz dar. Zwar besteht die radikale Linke Dresdens im Wesentlichen aus direkt und indirekt2 Lohnabhängigen, vertreten sind aber ganz überproportional bestimmte Fraktionen der lohnabhängigen Klasse. (So finden wir z.B. kaum Menschen mit Haupt- und Realschulabschlüssen in unseren Reihen.) Überproportional viele Leute unter uns haben ein oder zwei Elternteile mit akademischem Hintergrund, sehr wenige stammen aus Familien von Hilfsarbeiter_innen und Prekarisierten.
Lässt die Auseinandersetzung in unserer Bewegung über die eigenen Rassismen, nationalistischen Klischees, Sexismen usw. schon des Öfteren zu wünschen übrig, findet im Vergleich dazu fast gar keine Auseinandersetzung mit Klassismus und den damit verknüpften Themen statt. Das zeigt sich an verschiedensten Punkten, u.a. an der verwendeten Sprache, die sich in Aufrufen und Redebeiträgen finden lässt, und die oft einen akademischen Wortschatz und ein enormes Vorwissen voraussetzen. Oft auch mit einer Attitüde verknüpft, die dieses Vorwissen ganz selbstverständlich annimmt.
Noch augenscheinlicher wird das Problem, wenn wir uns ansehen, wie viele der sich als radikal und emanzipatorisch verstehenden Menschen sich aktiv als Lohndumper_innen in vorrangig hippen Läden einsetzen lassen und sich nicht mit ihren Arbeitsbedingungen befassen. Hier werden gesetzliche Absicherungen wie Mindestlohn, Arbeitschutz etc. aktiv unterlaufen. Wo so oft von Solidarität geredet wird, sorgen junge, flexible und gesundheitlich noch fitte Linksradikale dafür Branchenrealitäten zu schaffen, die ältere Kolleg_innen, ohne Notgroschen im familiären Umfeld und mit beträchtlich höheren Ausgaben z.B. für Kinder, Gesundheit usw. an die Wand zu spielen.
Schließlich zeigt sich das Desinteresse an der wirtschaftlichen Lage und Verortung von sich selbst und anderen auch an der geringen Aufmerksamkeit, die Aktionen und Veranstaltungen zu diesem Thema in Dresden von Seiten eines großen Teils der radikalen Linken erfahren. Wir erinnern uns hier an das frühere Desinteresse weiter „Szene“-Teile an anderen Themen wie Feminismus und Reproduktionsarbeit. Hier hat die Gruppe „e*vibes“3 in jahrelanger, sehr guter inhaltlicher Arbeit viel dafür getan, Themen sichtbar und eine ernsthafte Beschäftigung mit ihnen als Notwendigkeit deutlich zu machen, nicht zu letzt auch innerhalb der FAU Dresden. Vielleicht steht uns dasselbe mit den Themen Klassismus, Ausbeutung und Aktualität des Klassenbegriffs bevor.
Hast du die Mandy gesehn? – Ekelhafter Klassismus in Heidenau
Was nun in Heidenau von Teilen der Demonstrationsteilnehmenden dazu mitzubekommen war, war lookistisch4, diskriminierend gegenüber Menschen auf dem Land, diskriminierend gegenüber Lohnabhängigen, unreflektiert, gewaltaffin und testosteron-geschwängert. Kurz um: Peinlich.
Zu nennen wären dutzende Pöbeleien gegen „Mandys“, „Ronnys“, „Chantals“ und so weiter. Diese Namen, die v.a. mit armen Milieus der lohnabhängigen Klasse assoziiert werden, werden synonym für dumme Schläger_innen oder gleich für Nazis verwendet. Der Gedanke ist klar: Prekäres Umfeld = dumm und gewalttätig = Nazi. Dieser Gedanke funktioniert in einer politischen Kultur, in die es Menschen aus entsprechenden Milieus fast nie herein schaffen. Entweder weil mensch gar nicht erst in Kontakt kommt oder weil mensch sehr schnell wieder abgeschreckt und verprellt wird.
Mit dem Ronny-Bashing greifen die linken Aktivist_innen ihr Bild vom apolitisch oder rechtem „Proll“5 direkt bei den RTL-Nachmittagssendungen ab. Solcherlei Medienformate, zu nennen wären auch „Comedians“ wie Atze Schröder und ähnliche, zeigen einen überzeichneten Stereotyp vom wirtschaftlich abgehängten Teil der lohnabhängigen Klasse. Einerseits dienen diese Stereotype dazu, sich der eigenen Überlegenheit vor den „Prolls“ zu vergewissern, anderseits stellen sie auch Leitkultur für eben jene, als „Prolls“ gebrandmarkte Teile der Gesellschaft dar. Darin inbegriffen sind vor allem auch Medienkonsum und intellektuelles Selbststverständnis.
Statt, wie in den Ursprüngen einer progressiven linken Bewegung in Deutschland, das Bild von desinteressierten, ungebildeten Lohnabhängigen anzugreifen und zu versuchen dieses Selbstverständnis von Innen heraus zu verändern, wird es heute durch Sprüche wie „Ohne Bildung wähl ich AfD!“ oder das Abstempeln jedes_r Kolleg_in in einer Plattenbau-Kollektion als potentiellen Nazi, noch zementiert. Damit tappt eine linke Bewegung gleichzeitig noch in die Falle, die von FDP, SPD und CDU ausgegebene Parole „Wir sind alle Mittelstand!“ ernst zu nehmen und die Kolleg_innen, deren Arbeitsverhältnisse oft genug mit unseren gleichen oder noch wesentlich prekärer sind, von oben herab zu diffarmieren und die Verantwortung für ihre wirtschaftliche und intellektuelle Verfasstheit zu individualisieren, statt sie in Verhältnissen zu erklären.
Die ungeheuerlichsten Geschehnisse waren sicherlich Momente, in denen Sätze fielen wie „Alte, was willst du mit deiner scheiß Mandy-Frisur!?“ oder die direkte Androhung von Gewalt, das Abfilmen von Personen usw. bei Passant_innen, die einfach nur stehen blieben und sich für das Spektakel interessierten, dabei aber eben „wie Prolls“ aussahen.
Dazu kamen völlig sinnfreie und eine identitäre Spaltung vorantreibende Sprechchöre wie „Kühe, Schweine, Ostdeutschland!“. Auch Bombardement-Phantasien, in denen der Militarist und Rassist Bomber Harris herbei gewünscht wurde, waren keine Seltenheit an diesem Tag.6
Für die Leute von uns, die aus „Proll“-Familien kommen oder mit solcherlei Menschen leben und kämpfen ist das einfach nur ein riesen Arschtritt gewesen. Und für alle betroffenen Locals vielleicht ein guter Grund sich die nächsten Jahre von „der Antifa“ fern zu halten?
Fazit – Für einen Antifaschismus, der nach vorne geht!
Wir hoffen es ist deutlich geworden, warum viele von uns an diesem Tag mit schlechter Laune nach Hause gefahren sind. Ebenso ist es hoffentlich plausibel, dass immer mehr Mitglieder von uns die Befürchtung haben bei der Beteiligung an antifaschistischen Bündnisprotesten wieder in Demonstrationen zu geraten, die voll diskriminierenden Verhaltens, ritualisierten Protestformen und männlichen Dominanzgehabes sind.
Wir sind eine Struktur, die versucht in der Region mit Menschen ins Gespräch zu kommen und gemeinsam Lust auf sozialanarchistische Alternativen zum Bestehenden zu entwickeln. Mit unserer Beteiligung an diesem Tag haben wir dabei unseren Ausgangspunkt in Diskussionen alles andere als verbessert. Das frisst uns an, weil wir das Gefühl haben, an diesem Tag politisch nichts erreicht zu haben.
Wir hoffen mit diesem Beitrag auf ein paar Effekte: Diskussion über Lookismus, Landfeindlichkeit und Klassismus in unserer Bewegung und damit auf eine engagierte Intervention, wenn so etwas auf unseren Demonstrationen vorkommt. Eine größere Ziel- und Nutzenorientierung in der Konzeption von Aktionen, die klar kommuniziert und nach der dann auch gehandelt wird. Eine Debatte unter uns in der Bewegung, wo wir eigentlich im Kapitalismus stehen, wo wir Verschlechterungen mittragen, wo wir priviligiert sind und wo wir uns eigentlich mehr regen müssten.
Trotz der Kritik noch mal ein dickes Danke an die Orga, an die anderen Gruppen mit ihren guten Redebeiträgen, an das Lauti-Team und an alle, die es an diesem Tag nach Heidenau schafften und sich nicht wie die Axt im Walde benahmen.
Fehler passieren uns ja auch zur Genüge! Es ist kein Anlass sich zu zoffen oder sich nicht mehr Hallo zu sagen. Aber es ist Anlass offensiv zu diskutieren und Probleme auszuwerten. Entgegen der Meinung Vieler auch ausdrücklich öffentlich, damit die Debatte für alle Beteiligten, inkl. der Anwohner_innen Heidenaus, transparent bleibt und kollektiv Fortschritte gemacht werden können
Die Arbeitsgruppen der FAU Dresden:
AFA (Antifaschistiche Aktionen)
SRB (Schwarz-Rote Bergsteiger_innen)
Mandat Region Oberelbe
Fußnoten
1 Redebeitrag der PAL vom 21.08.2016
2 Mit indirekt Lohnabhängigen sind jene gemeint, die zwar keiner Lohnarbeit nachgehen aber von Löhnen Dritter oder Lohnersatzleistungen abhängig sind, weil eben auch sie nichts zu verkaufen haben als ihre Arbeitskraft. Das betrifft u.a. „klassische Hausfrauen“ bzw. „Hausmänner“, Bezieher_innen von Arbeitslosengeld, Sozialhilfen, gesetzlichen Rentenbezügen, Bafög usw.
3 Die Gruppe e*vibes – für eine emanzipatorische Praxis sind Mitglied der Lokalföderation critique’n’act im „ums Ganze!“-Bündnis und assoziierte Mitglieder in der Föderation deutschsprachiger Anarchist_innen
4 Diskriminierung auf Basis herrschender Schönheitsideale
5 Mittlerweile abwertend benutzter Begriff, meist für Leute aus dem prekären Teil der lohnabhängigen Klasse, ursprünglich recht wertneutrale Abkürzung für „Proletarier“, also Arbeiter.
6 Sir Arthur Harris war Oberbefehlshaber des britischen „Bombing Command“. Als solcher koordinierte er auch die Bombardierung Dresden im Februar 1945. Sprechchöre die sich auf ihn beziehen entstanden v.a. in Auseinandersetzung mit einer Gedenkkultur in Dresden, die jegliche Relation für das Leid durch deutsche Kriegsschuld, Porajmos, Shoa und die Verwicklung der Dresdner Bevölkerung in diesem Zusammenhang verloren hatte. Es war und ist eine Provokation gegen völkische Positionen von einem „unschuldigen Dresden“ und in diesem Zusammenhang sicherlich plausibel. Abseits davon war Harris aber alles andere als ein Humanist, dem es um militärische Effektivität für die Interessen seiner Nation ging. So war er sich mit den meisten heutigen AfD’ler_innen einig, dass „Araber“ mit starker Hand erzogen werden müssten und meinte damit die Bombardierung der Zivilbevölkerung. Ebenso wurde wichtige Infrastruktur zur Umsetzung der Shoa ganz bewusst und vorsätzlich beim Bombardierungsplan Dresdens nicht als Ziel einbezogen, was tausende Opfer des Faschismus hätte retten können. Abgesehen davon, dass militärische Mordphantasien nichts in linker Politik verloren haben sollten, hat deshalb auch so ein positiver Bezug auf Harris nichts auf einer Antifa-Demo verloren.